Der Berg

Autor:Jules Michelet
Erscheinungsjahr:2016
Genre:Reisebuch
Verlag:Mahler Verlag


Von Klaus Fauss
Warum heute noch alte Reiseberichte lesen? Vielleicht wegen des Charmes vergangener Fortbewegungsarten oder untergegangener Kulturen und Landschaften, die uns als Kontrast zu modernen Verbauungen mit Reizen des Originären bereichern. Dies träfe auch für Jules Michelets „Der Berg“ zu – das letzte und beste seiner naturkundlichen Reise-Bücher. Man reist mit Michelet zum Montblanc, in die Pyrenäen und ins Engadin, imaginativ nach Java und zum Nordpol und weiteren hot spots der Erde. Aber „Der Berg“ ist mehr als ein autobiographisch gefärbter Reisebericht. Dieses Buch aus dem Jahr 1868 besticht mit historischen, naturgeschichtlichen, ethnologischen, geologischen, geographischen und kosmologischen Reflexionen ganz eigener Art. Michelet, der Historiker Frankreichs und der französischen Revolution, war in Sachen Naturwissenschaften auf der Höhe seiner Zeit. Der Einwand, dass diesbezüglich viel Wissen überholt sei, ist relativ. Das 19. Jahrhundert scheint sogar in der Breite hinsichtlich naturkundlicher Kenntnisse gebildeter als das 21. Aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Es kommt nicht auf im Nachhinein richtige oder falsche Einzelheiten an. Seine Haltung gegenüber der Natur, seine Perspektiven auf die Erde sind eben nicht überholbar – schon gar nicht von modernen Gesellschaften, die agieren, als ob sie von einem anderen Stern auf die Erde gekommen wären, um den Planeten auszuschlachten. Michelet denkt sich stets selber als Abkömmling der Erde. Was er nicht naturwissenschaftlich fassen kann, beschreibt er mit pathetischer Zärtlichkeit in mythischen Kategorien. „Mythos“ aufgefasst allerdings nicht im Sinne des heute allenthalben in den Medien gemeinten „Es ist ein Mythos, dass“, was ja besser als Legende oder Lügengeschichte oder schlicht als „falsch“ zu bezeichnen ist. Mythisches Denken nimmt Zeit und Raum so wahr, um die Welt in ihrer Totalität zu begreifen. Deshalb löst Michelet auch die Grenzen zwischen Mensch, Tier, Pflanze, Stein und Boden auf. Er denkt ökologisch. Heute gehörte er dem Holismus an. Für ihn sind unterschiedslos alle Emergenzen der Erde beseelt. Statt vom Darwinschen Kampf redet er lieber vom Austausch, der die Schnecken eines Tages Berge bilden läßt. Statt von Adaption spricht er von Adoption. Das „Streben nach Licht“ und die „LIEBE“ sind die zwei „èlans (r)evolutionaires“, durch die sich die Erde autopoetisch entwickelt. „Die Erde macht sich selbst“ heißt es einmal lapidar. „Naturwissenschaft als Zeichenlehre“, ein Text, den Thure von Uexküll 1989 im Merkur publiziert hat, lässt überhaupt erst erahnen, was Michelet symbolisch und allegorisch mit seinem Begriffsjoker „LIEBE“ hinsichtlich einer universellen Sprache ausgedrückt hat. Im Tagebuch notiert Michelet „Die Erde erhitzt sich immer mehr“, was heute wie eine pointierte Definition des Fortschrittes anmutet. Denn die westliche Zivilisation und damit die ganze Weltbevölkerung strebt ja einerseits danach, die Energiemenge pro Kopf ständig zu vergrößern und andererseits das menschliche Leben zu schützen und zu verlängern. Das letztere sei eine Modalität des ersteren, wie Claude Lévi-Strauss in „Rasse und Geschichte“ anmerkt. Also hier nur angedeutet: in wenigen Wendungen sagt Michelet Wegweisendes, versteckt abstrakte Erd-Theorie in Reise-Anschauungen. Verknüpft Politikgeschichte mit Naturgeschichte. Wieviel muß Bruno Latour in „Kampf um Gaia“, auf deutsch 2017 bei Suhrkamp, doch schwätzen, um am geistigen Tellerrand von Michelet zu nippen.